
Liebe/-r Yogafan,
auch dieses Jahr ist es wieder Frühling geworden... nach einem Winter, der mir persönlich sehr lang vorkam, mit sehr wenig Sonne hier im Flachland. Jedes Jahr erwähne ich es erneut: Ich liebe den Frühling! Es wird heller, es wird wärmer, es wird grüner und bunter. Die Luft duftet anders. Die Vögel singen lebhafter, erste Bienchen wagen einen Probeflug und meine nackten Füsse freuen sich auf den ersten Kontakt mit dem Erdboden. Immer im Frühling spüre ich, wie ich diese vertrauten Einflüsse aus der Natur geniesse. Sobald sie da sind merke ich, dass sie mir gefehlt haben und ich empfinde es als belebend und irgendwie beglückend, den Frühling mit all meinen Sinnen in mich einfliessen zu lassen.
Wie ist das bei dir? Welchen Einfluss hat der Wechsel der Jahreszeiten und die Veränderungen in der Natur auf dein Befinden?
Letzthin dachte ich nach, über das Wort «Einfluss». Eindrücke aus der Aussenwelt fliessen durch unsere Sinne in unser Mensch-Sein ein und bewirken eine Bewegung oder Veränderung in uns. Doch nicht nur Eindrücke fliessen permanent ein - einer der selbstverständlichsten Einflüsse in unser Körpersystem ist der Einatem und natürlich auch der zugehörige Ausatem. Sie bewirken, dass wir lebendig bleiben.
Es gibt so viele unterschiedliche Einflüsse, die auf und in uns wirken. Jeder von ihnen trifft auf unser ganz individuelles, inneres System und wird dort auf individuelle Weise verarbeitet und bewertet.
Das erklärt, weshalb derselbe Eindruck für den einen Menschen positiv wirkt und für einen anderen gar nicht.
Es ist - unter anderem - die innere Interpretation, die den Unterschied macht. Im Alltag ist es schwer, sich die Einflüsse bewusst auszusuchen, die auf uns wirken. Genau genommen können wir uns vor ihrer Vielzahl kaum retten. Was machen wir also mit unerwünschten Einflüssen, die wir nicht verhindern können? Ein Beispiel: Wir treffen auf der Arbeit immer wieder auf diesen Menschen, mit dem wir einfach nicht klar kommen.
Wir können uns schon im Vorfeld sorgen oder aufregen über das, was gleich kommt und im Anschluss an die Arbeit können wir uns nochmals darüber äussern, wie schwierig die Zusammenarbeit mit dieser Person uns fällt. Das ist menschlich und völlig verständlich.
Der Nachteil daran ist, dass die unguten Gefühle in uns, 3 Mal da sind. Vorher, während und danach. Dass soll keine Bewertung sein, ob das nun gut oder schlecht ist. Es IST oft einfach...und sicher gibt es unzählige weitere Strategien wie jeder einzelne von uns die «schwierigen» äusseren Einflüsse handhabt.
Hier liegt - glaube ich - ein springender Punkt. Der betreffende Mensch ist wie er ist und so sehr wir auch nicht verstehen können, wie man sich so unangenehm verhalten kann – wir werden diesen Menschen nicht ändern. Vielleicht können wir uns aber eine Frage stellen:
Bin ich ein guter Einfluss auf mich selbst?
Anstatt mich ausschliesslich auf das Aussen zu konzentrieren und mich ausgeliefert zu fühlen, könnte ich mich fragen: «Was tue ich in meinem Inneren mit der Wirkung dieses Einflusses?»
Ich stelle also vielleicht fest, dass ich Bauchweh oder Kopfschmerzen bekommen habe, nach der heutigen Sitzung mit der unangenehmen Person. Ob sie das wirklich ausgelöst hat oder nicht, ist vielleicht gar nicht zu beantworten. Aber mein Körper und mein Nervensystem fühlen sich unangenehm an am Feierabend. Ich könnte mich auf einen Drink mit einem Freund oder einer Freundin treffen und lange davon erzählen, mich aufregen, berichten was ich schon alles versucht habe, um mit diesem Menschen zu kooperieren, aber nichts geholfen hat... du weißt was ich meine.
Oder ich könnte mich mir selbst zuwenden und feststellen, dass es mir nicht so gut geht heute Abend. Ich könnte mich fragen, was mir gut täte und mir dann etwas Gutes tun. Ich mir. Mein Einfluss. Meine Wahl.
Ich weiss, dass ist ein stark vereinfachtes Beispiel und unsere Lebenssituationen sind so viel komplexer. Es geht mir mehr um diese Wendung im eigenen Denken: Bin ICH MIR ein guter Einfluss? Nebst all jenen, die ich nicht unter Kontrolle habe. Habe ich für mich eine Art Repertoire von wohltuenden äusseren Einflüssen für Momente, in denen ich meine «Batterien» aufladen möchte? So wie: Natur, Musik, Sport, ein warmes Bad, Gärtnern, wohltuende Gesellschaft und so weiter.
Sind es nach anstrengenden Tagen oder zum Morgenkaffee die Nachrichten / Zeitung, die einen positiven Einfluss auf mich haben? Bin ich als mitfühlendes Wesen dazu verpflichtet mehrmals täglich die Nachrichten aus aller Welt in
mein Wohnzimmer und meinen Geist einfliessen zu lassen ohne ein Gegengewicht dazu, mit all den positiven, liebevollen Dingen die unablässig auf der Welt geschehen? Oder erlaube ich mir selbst herauszufinden, welche Dosis für mich sinnvoll und verträglich ist.
Welchen Gedanken hänge ich viel zu oft nach, obwohl sie mich immer eher «runterziehen». Bin ich ihnen wirklich willenlos ausgeliefert?
Welche meiner verfestigten Weltbilder machen mir das Leben eher schwer und sind sie noch aktuell?
All diese Beispiele berühren gerade mal die Oberfläche des Themas.
Auf unterschiedliche Weltbilder stosse ich in Gesprächen mit meinen erwachsenen Kindern immer wieder. Ich habe eine Idee, wie es sein soll – das Leben, das Verhalten der Menschen, die moralischen Werte usw. Doch sie sehen das teilweise ganz anders. Obwohl von mir «erzogen», hat der Kontakt mit der Welt und die Verarbeitung in ihrem Inneren, sie zu anderen Einsichten und Ansichten geführt. Ansichten, die ich vielleicht nie wirklich mit ihnen teilen werde. Sind meine oder ihre deshalb falsch? Wer hat denn nun Recht?
Bin ich mir selbst ein guter Einfluss, wenn ich stets denke, einer muss Recht haben und der andere falsch liegen? Diene ich mir selbst, wenn ich meine Erkenntnisse ständig in Frage stelle, weil nicht alle Menschen meiner Meinung sind? Ist es hilfreich für mich, mich innerlich dauernd zu ärgern darüber, dass andere Menschen für mich total unnachvollziehbare Weltbilder vertreten?
Ich habe keine abschliessende Antwort parat für all diese Fragen. Vielleicht ist der Prozess des Lebens, sich auf den Spuren von Fragen von einer Antwort zur nächsten zu entwickeln, um sich schon bald in eine neue Erkenntnis und eine neue Antwort zu entfalten. Manchmal finde ich das sehr belebend, manchmal einfach nur anstrengend und manchmal rudere ich ziemlich hilflos in den vielen Ausseneinflüssen und vergesse komplett meine Einflussmöglichkeit. Und wenn mir dann alles zu viel wird denke ich manchmal Dinge wie:
Warum kann etwas nicht einfach SO SEIN – punkt. Warum gibt es nicht die eine Wahrheit, die alle Menschen einsehen und danach handeln?! Das wäre doch mal eine schöne Konstante in einer verrückten Welt – oder?
Was sagt der Yoga darüber? Frei interpretiert etwa Folgendes: Die Welt ist eine sich unendlich neu entfaltende Schöpfung - das ist ihre Grundeigenschaft. Auch wir Menschen sind Wesen in unablässiger Veränderung und Entwicklung - das ist die Grundeigenschaft des Lebens. Genau diese Eigenschaft in der Schöpfung ist es, die uns Menschen am meisten leiden lässt. Parinama – der ewige Wandel, der auf eine menschliche Struktur trifft, die so gerne Stabilität und Sicherheit möchte.
So könnte eine der Lebensfragen sein – und nebenbei auch eine der tiefen Fragen des Yogaweges: Wie bin ich mir selbst ein stabilisierender Einfluss in einer sich wandelnden Welt? Ohne dabei festgefahren oder unflexibel zu werden, aber auch ohne wie ein Fähnchen im Wind orientierungslos zu wehen, weil ich mir keinen Standpunkt erlaube aus Angst, er könnte sich als unvollständig oder gar falsch erweisen. Selbst wenn das so wäre - würde mich das als ganzen Menschen unglaubwürdig machen? Oder würde es mich als einen Menschen auszeichnen, der sich im Fluss des Lebens entwickelt, wächst, erblüht und wieder verwelkt, um neu zu wachsen..?
Vielleicht lassen wir uns da ein bisschen vom Frühling mitreissen. Aus der scheinbaren Erstarrung des Winterschlafes entfaltet sich der Frühling. Das Wachsen, Ausdehnen und Erblühen beginnt jedes Jahr von Neuem und wir sind mittendrinn in diesem Feuerwerk der Lebendigkeit und des Wandels.
Ich wünsche dir einen bunten, blühenden Frühling!
Und falls dein Körper erstmal Frühjahrsmüdigkeit zeigt, dann versuch vielleicht, dich ihm zuzuwenden, anstatt dich dagegen zu sträuben. Liebe – das glaube ich fest - hat schon immer besser gewirkt als Kampf
Herzlichste Grüsse
Claudia